FOTO: © Thomas Aurin

STURM UND DRANG – Geschichte der Deutschen Literatur I

Das sagt der/die Veranstalter:in:
„Ach ihr vernünftigen Leute! (…) Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen. (…) Daß ihr Menschen, um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müßt: „das ist töricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös!“ und was will das alles heißen? Habt ihr deswegen die innern Verhältnisse einer Handlung erforscht?“ Leidenschaft, Trunkenheit, Wahnsinn, das sind die bestimmenden Gefühle des Sturm und Drang. Mit Sturm und Drang beginnt der französische Regisseur Julien Gosselin, bekannt für seine großflächigen Collagen aus Literatur, Film und Musik, eine über mehrere Spielzeiten hinweg angelegte Inszenierung und entwirft mit dem Ensemble eine neu erzählte Geschichte der Deutschen Literatur in Serie. Diese Geschichte beginnt nicht zufällig dort, wo an ein Deutschland im heutigen Sinn noch nicht zu denken war. In der Aufbruchsbewegung von Sturm und Drang, über die Weimarer Klassik bis hin zur Romantik, die über verschiedene Fürstenstaaten versprengt waren, findet sich in der Literatur eine geistig-kulturelle Atmosphäre wieder, die auch als ambivalenter Ursprung eines ‚nationalen‘ Selbstverständnis gelesen werden kann. Eine Kutsche fährt über die Bühne, hält im Zentrum von Weimar vor dem Hotel Elephant. Jene Stadt, in der man einst auf Goethe, Schiller, Herder und viele andere Größen der Zeit treffen konnte, wo im Jahre 1919 im Deutschen Nationaltheater Weimar durch Friedrich Ebert, die erste demokratische Verfassung verabschiedet wurde. Jene Stadt aber auch, die nur wenige Jahre später 1936 als ‚Gauhauptstadt’ durch die Nationalsozialisten okkupiert wurde, in der die einst humanistischen Ideale nationalkonservativ umgemünzt zu propagandistischen Zwecken dienten. Das Hotel Elephant in Weimar ist auch jenes, vor dem sich Bürger:innen versammelten, um Hitler zu empfangen. Vor diesem Hotel fahren Lotte, Victoria Quesnel, und Emma Petzet, ihre Tochter Charlotte zur Zeit Goethes vor – das zweisprachige Mutter-Tochter-Gespann, das nach Weimar kommt, um der Jugendzeit der Mutter nachzuspüren. Im Hotel und in ihren Erinnerungen begegnet Lotte verschiedenen Weimarer:innen, gespielt von Hendrik Arnst, Rosa Lembeck, Benny Claessens, und trifft im Andenken auf verflossene Lieben, Werther, Marie Rosa Tietjen und ihren Schöpfer, Goethe selbst, gespielt von Martin Wuttke. Gosselin verwebt den zentralen Text des frühen Goethe Die Leiden des jungen Werther mit Thomas Manns Reflexion über Goethe, Lotte in Weimar: Zur Zeit Goethes treffen in Weimar der gealterte Dichter auf die weibliche Hauptfigur an Werthers Seite, viele Jahre nach deren stürmischer Jugend, als Untote der deutschen Literatur. Thomas Mann stellt seinem Roman die Leiden der jungen und alten Lotte voran, die in der Literaturgeschichte nicht weiter Erwähnung gefunden hat. Wie steht es um Lotte und Werther, das Urpaar der unglücklichen Liebe? Kann Lotte der Projektion auf die Rolle, die sie in Leben und Literatur spielt, dem Albtraum von Erinnerungen, der sie im Hotel Elephant umgibt, entkommen? Bezeichnenderweise schreibt Thomas Mann Lotte in Weimar in den Jahren 1936-1939, als er selbst aufgrund des Nationalsozialismus aus Deutschland emigrieren musste. Anlässlich der Verleihung des Goethepreises 1949 an ihn, wird er resümierend sagen, er sei nicht besonders stolz auf seine Beschäftigung mit Goethe, sei es doch die Versenkung eines Deutschen in das Deutsche. Gleichzeitig schreibt sich Mann bereits in Lotte in Weimar mit dem Bewusstsein eines kritischen Deutschen ein und seine Reflexion über Goethe kann als Rückblick Manns auf die deutsche Kultur gelesen werden. Julien Gosselins Vorhaben ist nicht Versenkung in das Deutsche. Ihn interessiert die Bearbeitung von Literatur aus zeitlicher und kultureller Distanz, um sie eben nicht in die Gegenwart zu übersetzen, sondern um Vergangenheit offenzulegen: als Beschwörung der Geister, als Erforschung der ‘inneren Verhältnisse’ und als Spiel mit der kulturellen Erinnerung. Der gefeierte französische Regisseur Julien Gosselin inszeniert zum ersten Mal in Deutschland. Mit seiner Theaterfassung von Michel Houellebecqs Les Particules élémentaires (Elementarteilchen), die beim Theaterfestival in Avignon mit seiner 2009 gegründeten kollektiven Theatergruppe Si vous pouviez lécher mon coeur (SVPLMC) Premiere feierte, wurde er auch einem internationalen Publikum bekannt. Seither zeichnen sich seine Inszenierungen durch die Bearbeitung großer literarischer Stoffe aus, wie unter anderem die bildgewaltige auf dem Roman von Roberto Bolaño basierende 12-Stunden-Aufführung 2666 in französischer, spanischer und englischer Sprache oder das epochale Theatergesamtkunstwerk Mao II, Joueurs, Les Noms nach drei Romanen des US-amerikanischen Schriftstellers Don DeLillo, die das Aufkommen des Terrorismus thematisieren.

Location

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Linienstraße 227 10178 Berlin

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